Lese-Ecke

Cover: Jesh Art Studio,jeshartstudio.com unter Verwendung von Bildmaterial von AndrewLozovyi;fedoruk / Depositphotos

Ylva und der Tod (Ausschnitt)

aus der Anthologie "Der Ewige"

(c) Andreas Wöhl

Das schwere Atmen aus Lillebrors Bettchen verstummte, als sich der Schatten des mondbeschienenen Besuchers über ihn legte. Ylva schoss in ihrem Bett hoch. Sie wusste, dass er gekommen war, um ihren kleinen Bruder zu holen. „Nein, lass ihn bei mir!“
Der Besucher hielt inne.
„Bitte“, flehte sie. 
Er wandte sich ihr zu. Sein Schatten fiel auf ihre rechte Hand. Sie wurde so kalt und taub, als hätte sie sie in das eisige Wasser des Grässjön getaucht. Ylva zog sie rasch unter die Bettdecke zurück. Aus Lillebrors Bettchen erklang rasselnder  Husten. 
„Warum?“ Die Frage wehte wie ein schwacher Lufthauch aus Richtung des Besuchers an ihr Ohr. Sie konnte nicht sagen, ob ein Mann oder eine Frau gesprochen hatte. Die Gestalt war vom Dunkel der Nacht umhüllt. Ylva wagte es nicht, ihre Hände unter der Bettdecke nach den Streichhölzern und der Kerze neben ihrem Bett hervorzustrecken.
„Er ist mein Bruder“, antwortete sie mit gesenkter Stimme, um Lillebror nicht aufzuschrecken. „Ich hab ihn lieb und möchte nicht, dass er mit dir geht.“
„Sag Ylva, wie lieb hast du ihn?“, hauchte die Stimme durch den Raum.
„Er ist mir der liebste Mensch auf der ganzen Welt“, sagte Ylva und Tränen liefen über ihre Wangen. Kälte füllte den ganzen Raum. Sie kroch ihr in die Knochen und Ylva zitterte.
„Er ist sehr krank. Hörst du, wie er nach Luft ringt? Er hat Schmerzen“, umwogte sie die sanfte Stimme. „Will deine Liebe, dass er weiter leidet?“
Ylva schüttelte heftig den Kopf. „Nein. Er soll wieder gesund werden. Bitte.“
„Das steht nicht in meiner Macht.“ 
Bei diesen Worten zitterte Ylva noch stärker.
„Aber ist es nicht auch Liebe“, fuhr der Besucher fort, „wenn man jemand gehen lässt, wenn es Zeit ist? Ich höre die Menschen darum beten, dass ein geliebter Mensch von seinen Leiden erlöst werden und ewigen Frieden finden soll. Sag Ylva, willst du das nicht auch für Lillebror?“ 
„Ihm soll es gut gehen. Aber er soll auch bei mir bleiben.“ Sie schniefte.
„Ylva, du bist ein ganz besonderes Kind. Die Menschen können mich normalerweise nicht sehen. Weißt du, warum du es kannst?“
Ylva schüttelte den Kopf. 
„Weißt du, wie du auf die Welt gekommen bist?“
„Das hat meine Mama gemacht. Meine erste Mama.“
„Ja, das ist wahr. Ich verrate dir ein Geheimnis Ylva. Du darfst es niemandem weitererzählen. Versprichst du mir das?“ 
Ylva nickte zögerlich. Sie zitterte nicht mehr, denn die lautlose Stimme hatte etwas Vertrautes und Beruhigendes an sich. 
„Ich war da bei deiner Geburt. Ich war gekommen, um dich zu holen. Aber dann geschah etwas ... deine Mutter sah mich. Sie sah mich am Kindbett stehen und sie flehte mich an, dich am Leben zu lassen. Ich sagte ihr, dass dir keine weitere Lebenszeit bestimmt sei. Sie fragte mich nach ihrer Lebenszeit, und ob sie auch gehen müsse. Ich sagte ihr, dass die Reihe noch nicht an ihr sei, und wir uns erst in vielen Jahren wiedersehen würden. Da bat sie mich um einen Tausch. All ihre Jahre wollte sie dir schenken und an deiner statt mit mir gehen. Ich fragte sie, warum, und sie sagte, weil sie dich mehr als ihr Leben liebe. Und ich gewährte ihr den Wunsch. Du bist ein Kind der Liebe, Ylva.“
Als Ylva das hörte, spürte sie einen heftigen Schmerz. Papa hatte ihr erzählt, dass Mama bei ihrer Geburt gestorben war, aber er hatte es anders erzählt. In seinen Augen las sie stets einen Vorwurf, und nicht nur, wenn er ihr von ihrer Geburt erzählte. Auch wenn er sie einfach nur ansah. In den Augen ihrer zweiten Mutter hatte sie zumindest etwas wie Mitleid und Wohlwollen gelesen. Aber nie das Strahlen, das sie hatte, wenn sie ihren eigenen Sohn ansah. Und seitdem Lillebror so krank geworden war, hatte sich auch in den Blick ihrer zweiten Mutter etwas Anklagendes geschlichen und sie schimpfte oft mit Ylva ohne Grund. Einzig von Lillebror strömte ihr Liebe entgegen. Sie hatte bis jetzt gedacht, er wäre der einzige Mensch, der sie liebte. Sie hatte geglaubt, wenn ihre erste Mutter eine Wahl gehabt hätte, dann läge jetzt sie, Ylva, in der schwarzen Erde des Dorffriedhofs begraben. Und nun erfuhr sie, dass ihre Mutter eine Wahl gehabt hatte. Sie zitterte wieder, doch nicht vor Kälte. „Ich“, begann sie mit belegter Stimme, „möchte mein Leben gegen das von Lillebror tauschen.“
Der Besucher regte sich nicht, doch seine tonlose Stimme umhüllte sie. „Das ist dir leider nicht gegeben, Ylva. Denn ich musste deiner Mutter versprechen, dass ich dich nicht vor der vereinbarten Zeit holen werde.“
„Aber wenn du Lillebror mitnimmst“, presste Ylva unter Tränen heraus, „dann habe ich keinen Menschen mehr, der mich lieb hat. Dann nimm mich auch mit.“
„Nein Ylva, du musst noch bleiben. Pacta sunt servanda, das ist auch für mich ein eherner Grundsatz und bedeutet, dass Verträge einzuhalten sind. Vielleicht aber ist dir Folgendes ein Trost: Eines Tages werde ich kommen und dich holen.“
„Wann?“
„Aus meiner Sicht schon bald, einem Menschen aber, gerade wenn er so jung ist wie du, wird es lange vorkommen.“
„Ich will nicht so lange allein bleiben.“
„Das wirst du auch nicht. Und sei gewiss: Ich bin immer in deiner Nähe.“
Ylva sah auf, wischte Tränen fort und versuchte trotz der Dunkelheit, ein Gesicht unter der Kapuze des Besuchers zu erkennen. Selbst die Kapuze erkannte sie nicht, doch sie wusste, dass er eine trug. Sie wusste es, weil sie ihn nicht zum ersten Mal sah. Schon oft hatte sie ihn gesehen. Als die Großmutter gestorben war, als der kleine Jerik im Grässjön ertrunken war und immer, wenn eines der Tiere geschlachtet wurde. Immer war er da. Sie wusste, dass nur sie ihn sah, da sie ihren Vater und ihre zweite Mutter darauf angesprochen hatte. Denn sie wollte wissen, wer das sei, warum er stets komme, wenn jemand starb, und ob er ein Mann oder eine Frau wäre. Der Vater hatte ihr als Antwort eine Ohrfeige verpasst und geraten, sich solche Flausen aus dem Kopf zu schlagen. Die Stiefmutter hatte sich bekreuzigt und sie ermahnt, nie wieder darüber zu sprechen und den lieben Gott darum zu bitten, ihr gesunden Verstand zu verleihen. Von da an hatte sie verstanden, dass nur sie die Gestalt sah, und wann immer sie diese dann wieder erblickt hatte, hatte sie nie mehr ein Wort anderen gegenüber darüber verloren. 
Und nun stand diese Gestalt hier im Schlafraum vor ihr und sprach mit ihr. Eine Frage musste sie stellen: „Hast du einen Namen?“
„Ja und nein. Die Menschen geben mir viele Namen. Doch ich bin nicht nur für die Menschen da. Ich war schon vor ihnen da und werde noch da sein, nachdem es niemanden mehr gibt, der weiß, dass es die Menschen je gegeben hat. Ja, bis es niemanden mehr gibt, der mir einen Namen geben könnte.“
„Wie soll ich dich nennen?“
„Wie du magst. Gevatter, denn das bin ich für dich. Oder einfach so wie die meisten: Tod.“ Mit diesen Worten wandte er sich wieder Lillebrors Bettchen zu und streckte seine dürren Hände nach ihrem Bruder aus. 
„Nein.“ Ylva sprang aus dem Bett und warf sich gegen den Tod, um ihn fortzustoßen. Doch da war niemand und nichts, das sie anpacken und wegstoßen konnte. Nichts als ein kalter Schatten, durch den hindurch sie zu Boden stürzte.
„Merke dir, kein Mensch kann mich fassen“, sagte die tonlose Stimme ohne jeden Spott. „Wir sehen uns wieder, Ylva.“
Ylva sprang auf die Füße, doch da war der Schatten schon fort. Und mit ihm das Atmen aus Lillebrors Bettchen.

(Die vollständige Story ist in der Anthologie "Der Ewige" veröffentlicht.    

Die Nutzung der Leseprobe ist ausschließlich für private Zwecke gestattet. Vervielfältigung und Weitergabe nicht gestattet.)

Der Stein des unsichtbaren Volkes (Ausschnitt)

Aus der Mystery-Anthologie: "Aber glaube!"

(c) Andreas Wöhl als Andreas Engelmann

Das Unheil begann, als Ernst Schäfer den VW Golf genau neben dem Felsblock zum Stehen brachte, um den die holprige Straße einen Bogen beschrieb. Der Stein hatte fast die Ausmaße ihres Autos.

„Ich muss mal“, entschuldigte er sich bei seiner Verlobten Kathrin. Kühle Luft drängte sich in das Auto, als er die Tür öffnete. Ein kräftiger Wind wehte über den wolkenverhangenen Himmel.

„Wie praktisch, dass du im passenden Moment den einzigen Stein weit und breit gefunden hast“, erwiderte Kathrin mit einem süffisanten Lächeln.

Ernst warf ihr über die Schulter einen fragenden Blick zu und deutete dann mit der Hand über die grauschwarze Lavafläche, die sich scheinbar endlos um sie herum erstreckte. „Wieso, hier gibt’s doch nichts anderes außer Steinen und Geröll.“ Er machte Anstalten, hinter dem Fels zu verschwinden, doch Kathrins Ruf ließ ihn noch mal innehalten.

„Du, Ernst? Ernst!“

„Was denn? Kann ich nicht mal in Ruhe pinkeln, ohne dass du mich vollquatschst?“

„Im Reiseführer habe ich gelesen, dass unter solchen Felsbrocken die unsichtbaren Einwohner Islands hausen. Geisterwesen, Feen oder Trolle. Die Isländer respektieren das und lassen sie unberührt an Ort und Stelle. Sonst beschwören sie Unglück herauf. Das hier muss so ein Stein sein. Sieh mal, wie die Straße extra einen Bogen drum herum macht.“

„Ist ja sehr interessant, aber kannst du mir das nicht gleich im Wagen weitererzählen? Ich hab nur schnell was zu erledigen und keine Lust, mir was abzufrieren.“

„Ernst!“

Wollte sie ihn ärgern? Weil sie enttäuscht von der rauen Natur Islands war und ihren Urlaub lieber im sonnigen Spanien verbracht hätte? Aber sie hatte voriges Jahr das Ziel ihres ersten gemeinsamen Urlaubs aussuchen dürfen, nun war er dran gewesen.

„Was ist?!“

„Ernst, kannst du das nicht woanders machen?“

Es dauerte einen Moment bis er begriff, was sie von ihm wollte.

„Hast du sie noch alle?“, gab er gereizt zurück und verschwand hinter der windgeschützten Seite des Felsens. Doch gerade in dem Moment, in dem er den Reißverschluss seiner Hose runterzog, tauchte Kathrin neben ihm auf.

„Ernst, nicht! Du verärgerst das Geistervolk damit!“

Das reichte! Er gab ihr einen Schubser Richtung Auto und rief: „Dein Geistervolk kann mich mal! Weißt du, was ich vom Geistervolk halte? Hä? Ich pisse auf dein Geistervolk! Hört ihr mich? Ich pisse auf euch!“

 

Die nächsten zehn Minuten herrschte eisiges Schweigen, bis Ernst meinte: „Es tut mir leid.“

Kathrin seufzte. „Mir auch. Ist es wieder gut, Ernie?“

Ernst grinste. „Ja, ist wieder gut. Wirklich, ich wollte dich nicht so anranzen, aber wenn du da in der Kälte stehst mit einer Blase, die bald platzt ... “ Er schüttelte den Kopf. „Du hast aber auch Ideen ...“ 

„Ich habe einfach ein ungutes Gefühl, eine böse Vorahnung ...“

„Du glaubst doch nicht etwa an solchen Unsinn? Feen und Trolle? Was?“

Sie schwieg.

„Schau mal auf die Landkarte, wie weit es noch bis Seyðisfjörður ist“, versuchte er sie auf andere Gedanken zu bringen. Er wusste genau, dass sie noch mindestens zwei Stunden brauchen würden. Zwei Stunden durch diese urtümliche Landschaft, geformt vom Magma der Vulkane und dem eisigen Wind. In der Ferne erhoben sich dunkle, teilweise schneebedeckte Berge. Soweit sie die Straße einsehen konnten – und das war sehr weit –, waren sie die einzigen Menschen, die hier unterwegs waren. Ernst genoss die Einsamkeit, es hatte etwas Abenteuerliches.

 

Ernst verfluchte die Einsamkeit, als auch eine Stunde nach einer Reifenpanne noch immer kein Mensch zu sehen war. Dämmerung legte sich bereits über die Landschaft, obwohl es Nachmittag war. Nur die Spitzen einiger Hügel und der Berge wurden noch in Sonnenlicht getaucht. Doch vor der Dunkelheit brauchten sie sich nicht zu fürchten, denn um diese Zeit des Jahres wurde es in Island nicht wirklich dunkel. Zwar würde bald die Sonne untergehen, doch die Insel würde in ein Zwielicht getaucht bleiben bis zum nächsten Morgen. Dafür herrschte in den bald bevorstehenden Wintermonaten die Dunkelheit und Schwärze vor.

Dennoch hatten sie keine Lust, die Nacht im Auto zu verbringen. Es war jetzt schon kalt, und später würde es vermutlich Frost geben. Doch bis zur nächsten Siedlung war es zu Fuß zu weit. Sie hatten die Landkarte genau studiert. Leider war sie nicht detailliert genug, um zu erkennen, ob in der Nähe wenigstens ein einsames Gehöft lag.

So hofften sie weiter auf ein vorbeikommendes Fahrzeug. In Decken eingehüllt, saßen sie im Wagen und starrten missmutig durch die Scheiben. 

Die Sonne war noch nicht lange hinter den Bergen verschwunden, als Ernst plötzlich aufgeregt rief: „Da! Da sind Lichter! Siehst du es?“

Er deutete auf die Hügel rechts von ihnen. Tatsächlich bewegten sich dort zirka ein halbes Dutzend kleiner Lichter auf und ab.

„Was kann das sein?“, murmelte Kathrin.

„Vielleicht eine Wandergruppe oder Schafhirten.“

„Um diese Zeit?“

Ernst sprang aus dem Wagen. „Egal, ich werde nachschauen!“

„Ernst, warte, lass mich nicht allein!“

Er wandte sich um. „Jemand muss beim Wagen bleiben, Schatz. Wenn nun doch ein Auto vorbeikommt ...“

Sie nickte und rief ihm hinterher: „Bleib nicht zu lange fort!“

Ernst lief, so schnell er konnte, auf die Lichter zu. Bei dem steinigen Untergrund und dem Dämmerlicht musste er aufpassen, dass er nicht stolperte. Ein gebrochenes Bein hätte ihm jetzt gerade noch gefehlt.

Er wedelte im Laufen mit den Armen und rief: „Hallo! 

Hallooo! Wir brauchen Hilfe! Help us please!“

Doch die Lichter blieben nicht stehen. Im Gegenteil, sie schienen sich wieder zu entfernen. Oh nein, das konnte doch nicht wahr sein!

Noch einmal rief Ernst, so laut er konnte. Er meinte, eine Stimme zu vernehmen, doch nicht aus der Richtung der Lichter, sondern vom VW her. Kathrin?

Irritiert blieb er stehen, sah zurück und lauschte. Nichts. Er hatte sich wohl getäuscht. Als er sich wieder den Lichtern zuwenden wollte, stellte er mit großer Bestürzung fest, dass sie verschwunden waren!

Er wollte es nicht glauben und lief noch einige Schritte in die Richtung, in der er sie zuletzt gesehen hatte. Doch sie erschienen nicht wieder.

Mit hängenden Schultern ging er zum Wagen zurück. Das hatte er nun von seinem Abenteuerurlaub. Es tat ihm leid, dass er Kathrin hierhergebracht hatte und nicht an einen freundlicheren, wärmeren Ort. Beim VW angelangt, sagte er: „Ich war nicht schnell genug. Ich schwör dir, beim nächsten Urlaub ...“

Er verstummte augenblicklich, als er merkte, dass seine Verlobte nicht ihm Wagen war. „Kathrin?“ Er stieg aus, ging um das Auto herum und schaute sich um. „Kathrin!“

Sie war wie vom Erdboden verschluckt.

(Die vollständige Story ist in der Anthologie "Aber glaube!" veröffentlicht.    

Die Nutzung der Leseprobe ist ausschließlich für private Zwecke gestattet. Vervielfältigung und Weitergabe nicht gestattet.)